Drei Fragen an … Jean-Marc Ayrault

Der ehemalige Premier- und Außenminister Frankreichs, Jean-Marc Ayrault, ist seit 2018 Vorsitzender des Fördervereins der Stiftung Genshagen. Wir haben ihm drei Fragen gestellt...
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1) Was hat Sie dazu bewogen, sich nach dem Ende Ihrer aktiven politischen Karriere für die Stiftung Genshagen zu engagieren und den Vorsitz des Fördervereins zu übernehmen?

Meine lebhafte Zuneigung zu Deutschland besteht schon sehr lange. Sie geht auf die Jahre zu Beginn meiner Karriere zurück, als ich Deutsch an der Schule unterrichtete. Später, während meiner politischen Laufbahn in Frankreich als Bürgermeister, Abgeordneter und dann als Fraktionsvorsitzender des Parti socialiste in der Nationalversammlung, lag mir sehr daran, zur politischen Debatte in Deutschland mit den Parteien meiner politischen Familie, aber auch mit den anderen Parteien beizutragen. Ich habe immer wieder mit Deutschland gearbeitet, vor allem als Premierminister und dann als Außenminister, auf Bundes- und auf Länderebene, mit politischen Partnern ebenso wie mit der Zivilgesellschaft. Ich war immer zutiefst von der zentralen Rolle der deutsch-französischen Beziehungen in Europa überzeugt. Diese Rolle ist nicht exklusiv, aber sie ist gleichwohl unverzichtbar. Während meiner aktiven politischen Zeit war es natürlich mein Ziel, die Verbindungen zwischen unseren beiden Ländern zu konsolidieren und zu verstärken. Ich bin davon überzeugt, dass die globalisierte Welt mehr internationale Zusammenarbeit und mehr Multilateralismus braucht. Einen Multilateralismus, dessen Wirksamkeit verbessert werden und der auf flexible Art und Weise funktionieren muss. Deutschland und Frankreich, die aus ihrer Vergangenheit gelernt und den Erfolg ihres Aussöhnungsprozesses täglich vor Augen haben, müssen sich hierfür gemeinsam einsetzen, mit Energie und Entschlossenheit. Aber man darf nicht glauben, gerade mit Blick auf die junge Generation, dass es für das Erreichte in den deutsch-französischen Beziehungen eine Bestandsgarantie gäbe. Es braucht daher Orte und Akteure, die den aus einer schmerzhaften Vergangenheit entstandenen deutsch-französischen Motor pflegen und fortentwickeln. Ich bin ganz besonders glücklich, an dieser Aufgabe als Vorsitzender des Fördervereins der Stiftung Genshagen mitwirken zu können, diesem Ort des Dialogs zwischen Kunst, Kultur, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien, an der Schnittstelle zwischen Zivilgesellschaft und Staat.

2) Sprechen wir über die Perspektiven des Dialogs zwischen Frankreich, Deutschland und Polen: Welche Chancen sehen Sie für eine konstruktive Rolle des "Weimarer Dreiecks" bei der Zukunftsgestaltung Europas?

Zunächst, wie schon gesagt, sind die deutsch-französischen Beziehungen nicht exklusiv und müssen sich für andere Länder öffnen, sich erweitern. Durch die Einbeziehung Polens, diesem historisch und durch sein Gewicht wesentlichen Land in Europa, ist das Weimarer Dreieck ein wichtiges Instrument dieser Öffnung. Die Stiftung Genshagen hat dies genau verstanden, sie bezieht Polen aktiv in ihre Arbeit ein und führt wunderbare trilaterale Projekte durch. Das Weimarer Dreieck ist heute ein wichtiges Forum, um den Zusammenhalt in der Europäischen Union zu stärken. Im Laufe der letzten Jahre sind starke Impulse in der Europäischen Nachbarschaftspolitik, der Erweiterungspolitik und der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gegeben worden. Ich hatte die Ehre, als französischer Außenminister zu diesen Impulsen beizutragen, insbesondere anlässlich des 25. Jahrestags des Weimarer Dreiecks im August 2016. Ich bin davon überzeugt, dass die Dialogperspektiven zwischen unseren drei Ländern Europa dann nützen können, wenn die schwierigen Themen nicht ausgespart, sondern angesprochen werden. Es gibt in meinen Augen keine verbotenen oder unmöglichen Themen. In Europa müssen wir über alles sprechen können, wie man auch unter Freunden über alles spricht. Ich denke dabei an so unterschiedliche Dossiers wie die Immigration und die Personenfreizügigkeit, oder auch den Aufbau einer gemeinsamen Außenpolitik angesichts der Bedrohungen im Osten und im Süden. In diesen Bereichen müssen die langfristigen Ziele unserer drei Länder analysiert und einander angenähert werden. Wie auch in vielen anderen Fragen werden wir hier keinen Erfolg haben, wenn wir nicht zu einer solchen Annäherung gelangen, die vor allem auf gemeinsamen Interessen und gemeinsamen und wohl verstandenen Werten beruht.

3) Welche Wirkung kann das Zusammenspiel von Politik und Kultur - den beiden Arbeitsbereichen der Stiftung - für den Zusammenhalt und die Zukunft Europas entfalten?

Wie Sie wissen, war ich über viele Jahre Bürgermeister einer großen französischen Stadt, Nantes, die übrigens enge freundschaftliche Beziehungen mit der Hauptstadt des Saarlands, Saarbrücken, unterhält. Seit 1965 besteht eine Partnerschaft zwischen beiden Städten. In dieser Zeit wurde mir immer wieder vor Augen geführt, welchen hohen Stellenwert die Kultur hat, wenn es darum geht, Verbindungen zwischen den Bürgern zu knüpfen. Und was hier auf der Ebene der Städte gilt, kann auch auf der Ebene des europäischen Kontinents gelten. Die Europäische Union ist auf einer wirtschaftlichen Grundlage entstanden, und erst nach und nach, insbesondere mit dem Vertrag von Maastricht, hat sie kulturpolitische Kompetenzen entwickelt. Im Kern dieser Kulturpolitik geht es darum, das Zugehörigkeitsgefühl zu einer europäischen Gemeinschaft zu stärken und zur Verbreitung europäischer Kultur in der Welt beizutragen. Angesichts der immer deutlicher wahrnehmbaren Ängste vor einer kulturellen Vereinheitlichung erscheint mir die Arbeit der Stiftung Genshagen zur Stärkung der kulturellen Vielfalt nicht nur absolut fundamental, sondern auch mehr denn je von höchster Aktualität. Dieses Ziel findet sich in der sehr schönen Devise Europas wieder: Vereint in Vielfalt. Durch ihre Aktivitäten und ihr Bestreben, zur Suche nach neuen, innovativen Lösungen angesichts der gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen beizutragen, erfüllt die Stiftung Genshagen diese Devise mit Leben.