Genshagener Papier N°22

„Auflösung des politischen Systems und Herausforderung Europa: die Präsidentschaft von Emmanuel Macron

März 2019

Dieser Aufsatz des renommierten Politikwissenschaftlers Dominique Reynié ist ein Beitrag zur Analyse der Situation Frankreichs anderthalb Jahre nach der Wahl von Emmanuel Macron zum Präsidenten der Republik unter beispiellosen und unvorhersehbaren Bedingungen. Dieses im wahrsten Sinne außergewöhnliche Ereignis ist die Folge der politischen Krise in Frankreich, das Ergebnis alter Blockaden, die die französische Gesellschaft allmählich gelähmt haben, und die die aufeinanderfolgenden Mehrheiten nicht aufzuheben wussten, konnten oder wollten. Nach dem Ausreizen der Wechsel zwischen rechts und links haben die französischen Wähler den jüngsten aller französischen Präsidenten an die Macht gebracht. Man kann nicht genug darauf hinweisen, dass in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen eine Kandidatin des Antisystems, Marine Le Pen, einem Kandidaten von außerhalb des Systems gegenüberstand. Nicolas Sarkozy war vor seiner Präsidentschaft nie Premierminister, François Hollande nie Premierminister oder Minister gewesen. Schließlich ist Emmanuel Macron Präsident geworden, ohne jemals zuvor weder gewählt worden zu sein noch kandidiert zu haben. Zweifellos sind die Franzosen schon seit einiger Zeit auf der Suche nach einem echten Bruch. Bei den Präsidentschaftswahlen 2017 haben sie einen weiteren Schritt in diese Richtung unternommen. Indem sie plötzlich alle Vertreter der traditionellen Politik ablehnen, scheinen sie einen ultimativen Kompromiss zu wagen: eine Präsidentschaft des Umbruchs, ohne mit der Europäischen Union zu brechen. Das Scheitern der Präsidentschaft von Macron würde das Gewicht der Befürworter eines noch radikaleren Bruchs, dieses Mal mit Europa, erheblich erhöhen.